7.3 Ohne Grundkonsens geht es im ländlichen Raum nicht (Teil I)
7. Agrarberichte, Agrarstruktur
7.5 Global denken, lokal handeln
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7.4 Agrarstruktur als Bestimmungsfaktor des ländlichen Raumes

I. Einführung:

 

Von Agrarstruktur wird häufig sehr vereinfacht und einseitig im Zusammenhang mit der Betriebsgrößenstruktur gesprochen. Agrarstruktur ist aber ein äußerst vielschichtiger Sammelbegriff, der geprägt wird durch die verschiedensten Bestimmungsfaktoren, wobei der der Betriebsgröße/Schlaggröße/An;zahl des Viehbestandes nur einer ist, der als äußeres Kennzeichen optisch sichtbar wird.

 

Ausgehend von den natürlichen Produktionsbedingungen, wie vor allem Boden, Klima, Relief, Siedlungsstruktur sind innere und äußere Verkehrslage, Produktionsstruktur, Kapitalstruktur, Eigentumsverhältnisse und schließlich die Arbeitskräftestruktur, also der Mensch, der Bauer als Unternehmen und seine Mitarbeiter, bestimmende Einflussgrößen, die im Rahmen der politischen, gesamtwirtschaftlichen und historischen Entwicklung das jeweilige Gesamterscheinungsbild als Agrarstruktur prägen.

 

Die historische Entwicklung der deutschen Agrarstruktur hat mit dem Ende des 2. Weltkrieges eine Trennung in Ost und West erfahren, die auch künftig noch gravierend sein wird. Die Agrarberichte der Bundesregierung als auch der Bundesländer und des Deutschen Bauernverbandes dokumentieren dies mit den Bilanzbuchführungsergebnissen und unverfälschbaren Zahlen jährlich eindrucksvoll - RdL 11/2004. Zunächst hatte der 2. Weltkrieg mit dem Tod auch zahlreicher Bauern zu einem erheblichen Verlust von Hofeigentümern und ihrer potentiellen Nachfolger in Ost und West geführt. Die Vertreibung von Millionen Familien aus den Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße stellte die beheimateten Menschen in Ost- und Westdeutschland auch aufgrund der Hungersnot,  vor allem in den Dörfern vor die Aufgabe der Aufnahme dieser Vertriebenen - neben den Millionen in Ost und West gleichermaßen in den Städten ausgebombter und auf dem Land Nahrung und Unterkunft suchender Menschen.

 

II: Gemeinsamkeiten  und Trennung in Ost und West

 

Im Gebiet der ehemaligen DDR begann mit der Enteignung in 1945, der Verschleppung, Internierung kleinerer und größerer NS-Systemträger, Orts- und Kreisbauernführer, vor allem der sogenannten Großbauern - sehr häufig ohne Gerichtsverfahren und Gerichtsurteil - die Trennung auch der Agrarstrukturen.

In nicht wenigen Fällen kam es auch noch nach der DDR-Gründung von 1948/49 zu Enteignungen und politisch motivierten Vermögensentzug. Die Ansiedlung von Vertriebenen und Landarbeitern als Neubauern schafften auf den enteigneten Flächen eine nur vorübergehende, meist auch infolge der Unerfahrenheit in der Selbständigkeit, unbefriedigende Situation, die infolge der Kollektivierung nach Lenins Modell aus der Oktoberrevolution aus dem Jahre 1917 ab 1952 in der DDR nach sowjetischem Muster gelöst wurde - RdL 4 und 5/2004.

 

Im Zuge dieser jeweils vom Ministerrat der DDR beschlossenen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft nach LPG-Gestz in Landwirtschaftliche oder Gärtnerischen Produktionsgenossenschaften und Kooperativen Einrichtungen, entstanden neben den Volksgütern bis 1960 bzw. 1974 den sowjetischen Kolchosbetrieben ähnliche industrielle, im Kollektiv arbeitende „Großbetriebe". Rund 3.800 LPGn/GPGsn und rund 460 Volksgüter mit jeweils 2000 bis 10000 ha, oft über viele Dörfer und auch mehrere Kreise hinweg, sowie Tierhaltungsbetriebe, mit nicht selten 3000 Großvieheinheiten (GV) prägten die Agrarstruktur der DDR.

 

Den LPG-Bauern blieben zur privaten individuellen Bewirtschaftung rund 0,5 ha Land und die Möglichkeit einer entsprechend bescheidenen individuellen Viehhaltung zur Selbstversorgung - und zum Verkauf „freier Spritzen". In der DDR war die Dorfentwicklung 40 Jahre erstarrt und wird nie mehr nachgeholt oder durch etwas Besseres heute dort noch zeitgemäßes ersetzt werden können. Meist fehlt es hierfür bereits an konkreten Zielstellungen, vor allem aber an Geld und jüngeren Menschen. Im Westen veränderte sich die Agrarstruktur der Nachkriegszeit ab Gründung der Bundesrepublik Deutschland in 1949 mit der Einführung der D-Mark und dem gesamtwirtschaftlichen Wiederaufbau. Der in der Landwirtschaft nicht mehr benötigte hohe Arbeitskräftebesatz ging zurück, da die Menschen im gewerblichen, industriellen Wirtschaftssektor Arbeit und besseren Verdienst fanden und die Mechanisierung mit dem Traktor und neuer Technik - z.B. Geräteträger, Frontlader, Arbeitskräfte und Arbeitspferde freisetzte. Der Arbeitskräftebesatz je 100 Hektar und 100 GV ging ab 1950 ebenso ständig zurück wie die Zahl der landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebe. Die Zahl der Nebenerwerbsbetriebe stieg dagegen, da Vollerwerbsbauern mit der Aufnahme außerlandwirtschaftlicher Arbeit und entsprechenden Einkommen zu Nebenerwerbsbauern wurden. Je nach Konjunkturlage verlief dieser Prozess schnell, in Rezessionsphasen zeitweise langsamer.

 

Die Aussiedlung landwirtschaftlicher Vollerwerbsbetriebe aus der Dorflage seit Mitte der 50-ziger Jahre, die damit einhergehende Dorferneuerung ermöglicht durch den Abbruch der Althofstellen oder ihres Um- und Ausbaus zu Wohn- oder Gewerberaum, so auch bei aufgegebenen Betrieben, haben die Agrarstruktur und den ländlichen Raum im Westen seit nunmehr 50 Jahren gefördert. Die Ausbildung der nachwachsenden Generation zu Landwirtschaftsmeistern, Meisterin der ländlichen Hauswirtschaft, Hauswirtschaftsleiterin und Fachschulbesuch auf der einen Seite, das erlernen außerlandwirtschaftlicher Berufe und Studium auf der anderen Seite, hatte zur Folge, dass vereinzelt aber zunehmend auch Haupterwerbsbetriebe keine Hofnachfolger mehr hatten bzw. die sogenannten weichenden Erben im nichtlandwirtschaftlichen Bereich eine gute Existenz fanden. Die Einrichtung der Landwirtschaftlichen Krankenkasse und Landwirtschaftlichen Alterskasse Mitte der 50-ziger Jahre neben der Berufsgenossenschaft sollten dazu beitragen, dass der Agrarstrukturwandel in der Bundesrepublik Deutschland erleichtert sowie sozial abgefedert ermöglicht wurde und verfehlte diese Zielstellung nicht, zumal das im Artikel 14 Grundgesetz (GG) geschützte Eigentum im Gegensatz zur Entwicklung in der DDR nie in Frage gestellt wurde und infolge Bodenwertsteigerungen und Pachtpreisentwicklung seit 1950 bis 1990 auch dem aufgebenden Bauern mit steuerlichen Freibeträgen und ermäßigten Steuersätzen das oft über Generationen erarbeitete Hofvermögen als soziale Sicherheit erhalten blieb und der nächsten Generation vererbt werden konnte.  

 

An dieser Situation hat sich auch bis heute nichts grundlegend geändert, allerdings mit teilweiser Verschärfung in jenen Fällen, wo kapitalintensive Betriebe mit nennenswertem Fremdkapital aufgegeben werden. Waren in den 50-ziger, 60-ziger und 70-ziger Jahren i. d. R. bei Betriebsaufgaben wenig Fremdkapital im Spiel, da größere aufgestockte Vollerwerbsbe­triebe kaum aufgegeben wurden, und mit dem Aufgabegewinn das geringe Fremdkapital leicht getilgt werden konnte, fehlen heute und künftig zum Teil auch in kapitalintensiven Vollerwerbsbetrieben Hofnachfolger.   

 

Die Arbeitsbelastung der in der Landwirtschaft tätigen Menschen war in Ost und West nie gering. Zwar hatte man in den industriellen Großbetrieben der DDR den 8-Stundentag, dafür aber vor allem in den Viehhaltungs-LPGs auch Schichtbetrieb. Aufgrund der meist sehr bescheidenen Arbeitshilfsmittel war die Landarbeit in den LPGs ohnehin recht arbeitsintensiv und damit körperlich belastend. Die Stallgebäudetechnik z. B. ist oft noch bis heute ein Problem bei der Mechanisierung und Technisierung der Stallarbeiten, wenngleich nach 1990 mit erheblichen Fördermitteln zahlreiche Stallgebäude saniert und ihre Einrichtung modernisiert werden konnte. Der Viehbestandabbau und die zahlreichen nicht mehr, auch nicht alternativ, nutzbaren Altbaustallgebäuderuinen dokumentieren andererseits eindrucksvoll diese Belastung der Dörfer. 

 

Der Arbeitskräftebesatz in den LPGn je 100 ha und je 100 GV dokumentiert dies ebenso. So lag 1989/90 der durchschnittliche Arbeitskräftebesatz bei etwa 10 AK auf 100 ha mit 100 GV. Das heißt, je AK 10 ha und 10 GV. Und selbst wenn man berücksichtigt, dass die LPG mit ihrer Baubrigade, Werkstattbrigade, Küchenbrigade und der Kinderkrippe handwerkliche Arbeiten und Dienstleistungen im Dorf erbracht hat und man die dort Beschäftigten nicht mit in diesen Vergleich einbezieht, und der Bezug je AK vergleichbar mit der Bundesrepublik auf die Urproduktion beschränkt wird, kam man sicher immer erst auf etwa 20 ha und 12 GV/AK. Die Arbeitsproduktivität war trotz überdimensionaler „idealer Betriebsgrößenstruktur" entsprechend gering. Von den Umweltschutzproblemen, die den ländlichen Raum in der DDR enorm und unvergleichbar mehr als im Westen belastet haben, ganz zu schweigen. Die Stallklimaverhältnisse und damit die dortigen Arbeitsbedingungen sowie die Arbeitsbedingungen auf der Technik haben die in der Landwirtschaft der DDR tätigen Menschen unverhältnismäßig belastet, wie die Feststellungen der Krankenkassen und Berufsgenossenschaft seit 1990 klar ausweisen. 

 

Die Produktions- und Ertragstruktur war entsprechend. Die Ackerbauerträge, dt/ha lagen 1990 im Osten bei etwa 55 % des Westens, die Milchleistungen/Kuh lag bei etwa 60 % der des Westens. Trotz scheinbar idealer Betriebsgrößenstruktur hatte die DDR-Landwirtschaft bei deutlich höheren Arbeitskräftebesatz/ha/GV als im Westen geringere Erträge. Wie die Agrarberichte des Bundes und der Länder dokumentieren, hat sich der Arbeitskräftebesatz je 100 ha im Osten inzwischen dem des Westens angeglichen und liegt bei etwa 2,5 AK/je 100 ha, wenn auch mit geringerer Viehhaltung. Auch die Erträge/ha/Kuh haben im Osten (LPG) inzwischen Weststandard und das Niveau der privaten Bauern nahezu erreicht.

 

Die Rentabilität der LPG-Betriebe liegt jedoch bei entsprechend geringer Produktivität je  AK unverändert hinter dem der Privatbauern in Ost und West, wobei die Privatbauern im Osten aufgrund der besseren, aber eben doch noch überschaubaren Betriebsgrößenverhältnisse allerdings geringerem Viehbestand selbst den Westbauern den Rang abgelaufen haben, wie z. B. die Agrarberichte der Bundesregierung dokumentieren. Dort wird nachgewiesen, dass die Bilanzsumme, das Bilanzaktivvermögen als auch das Eigenkapital der LPG-Betriebe infolge nachhaltiger Verlustergebnisse in der Gewinn- und Verlustrechnung, kontinuierlich zurückgegangen ist und dies trotz nahezu doppelt so hoher Fördermittel - Direktzahlungen und Zuschüsse - von rund 21000 Euro/AK (rund 80 % der Personalkosten) im Vergleich zu den Privatbauern mit rd. 11200 Euro/AK (Agrarber.2004,S.39).  

 

Die soziale Absicherung der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung in der DDR erfolgte mit der einheitlichen Krankenversicherung und Rentenversicherung, einheitlich gleichermaßen „gerecht", ohne Unterschied zwischen Männer und Frauen - mit gewissen Ausnahmen betreffs Zusatzversicherungsmöglichkeiten und höherer Versicherung, insbesondere für „Besserverdienende" über 600 Mark/Monat und „Spitzenversicherung" für „Spitzenfunktionäre".

 

Im Westen erfolgte die Absicherung der Bauern und der in der Landwirtschaft mitarbeitenden Familienmitglieder, insbesondere auch der Ehefrau/Bäuerin, mit der Berufsgenossenschaft, Landwirtschaftlichen Altersklasse und Landwirtschaftlichen Krankenkasse. Ferner sorgte das grundrechtlich ge­schützte Eigentum sowie das Ehe- und Familienrecht nach BGB für ausgleichende Möglichkeiten der Sicherheit, wo kein Miteigentum der Ehegatten im Grundbuch vorlag. Neben der gesetzlichen Regelung der Zugewinngemeinschaft stand es dem Bauerfamilien frei, durch Ehevertrag entsprechende Regelungen zu treffen.

 

Durch Bildung außerbetrieblichen Privatvermögens mit Lebensversicherung, Wohnungseigentum zugunsten mitarbeitender Familienangehörigen, wurden ausreichend Möglichkeiten geboten, für soziale Sicherung zu sorgen.

 

Dabei spielte immer auch die Abfindung der weichenden Erben eine beachtliche Rolle, die sowohl durch Ausbildung/Studium und Übertragung von Privatvermögen rechtzeitig in freier Entscheidung so gestaltet werden konnte und kann, dass der Hof als selbst eigenfinanzierter Arbeitsplatz des Hofnachfolgers und seiner Familie gesichert bleibt und Erbansprüche, auch Pflichtteilsansprüche, rechtzeitig, noch von den Eltern, ausgeglichen werden können. Der Bauernhof, als oft über Generationen selbst erarbeiteter Arbeitsplatz und als soziale Sicherheit für den Bauern und seine Familie, ist daher für die Agrarstruktur, den ländlichen Raum, das Dorf im Westen der Bundesrepublik unverändert eine tragende Säule und durch das grundrechtlich geschützte Eigentum, das auch nach Artikel 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten als Menschenrecht geschützt ist, ein Bestandteil unseres Kulturraums.

 

Im Osten unseres Landes ist mit dem LwAnpG vom Juli 1990 und der Übernahme dieses im Einigungsvertrag von 1990 in bundesdeutsches Recht mit Ablauf des 31.12.1991 das LPG-Gesetz außer Kraft getreten, das Verfügungsrecht über den Boden und der Vermögensanspruch gesetzlich festgelegt mit dem Ziel, wieder bundesdeutsche Rechtsverhältnisse nach GG und BGB herzustellen. Jedoch weisen Untersuchungen nach und dokumentieren zahlreiche Gerichtsverfahren, dass diese bundesdeutschen Rechtsverhältnisse nur zu einem geringen Teil umgesetzt wurden und altes LPG-Unrecht aus DDR-Zeiten in erheblichen Maße auch weiterhin fort besteht, was das Zusammenleben, das Vertrauen unter den Menschen in den Dörfern fortgesetzt belastet - RdL 4/2004, RdL 5/2004, RdL 11/2004, RdL 12/2004, RdL 8/2003, RdL 4/2003, RdL 9/2002, RdL8/2002, RdL, 11/2000 und HLBS-Report 5/2002.  

 

III: Ausblick:

 

Gleich mehrere Unbekannte werden künftig den ländlichen Raum und die Entwicklung der Agrarstruktur im weitesten Sinne in Ost und West mit prägen.

 

1.   Die künftige Agrarförderung, produktionsunabhängig und betriebesbezogen, wird je nach Standort und Produktionsstruktur nicht ohne Einfluss bleiben.

 

2.   Die künftige Konzentration der Förderung im gewerblichen Bereich, auf sogenannte Wachstumskerne, kann auch nicht ohne Einfluss auf den ländlichen Raum und die Agrarstruktur bleiben. Die gegenwärtige Strukturreform der Bundeswehr ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Dort werden in den betroffenen Standorten Beschäftigungsverhältnisse - notwendigerweise - wegrationalisiert. Ob es hierfür entsprechende Alternativen geben wird, ist mehr als unsicher. Durch die ebenso notwendige Konzentration der begrenzten Fördermittel auf sogenannte Wachstumskerne können solche Beschäftigungsschwerpunkte künftig im ländlichen Raum gar nicht erst neu entstehen. Dabei sollte es bei der gegenwärtigen und künftigen Förderung nicht nur um die sogenannten Wachstumskerne gehen, sondern vielmehr um die Frage, wie wirtschaftlich, wie rentabel kann ein Unternehmen, ganz gleich an welchem Standort, also auch in den entlegenen ländlichen Regionen existieren. Unproduktive Unternehmen werden auch im Wachstumskern auf Dauer nicht existenzfähig sein.

 

3.   Das Arbeitslosengeld II - Hartz IV - wird ebenso nicht spurlos am ländlichen Raum vorübergehen. Einkommenseinbußen haben zwangsläufig auch einen Rückgang der Nachfrage und des Konsums zur Folge, was auf den ländlichen Raum und die jeweiligen Agrarstrukturfaktoren nicht ohne Einfluss bleiben kann. Zum Dorfleben und den ländlichen Raum gehört eben mehr als Bauern mit Ackerland und Viehhaltung. Daneben sind Handel, Handwerk, mittelständische Unternehmer, Dienstleistung, Schule und Kirche tragende Elemente des Sozialgefüges im ländlichen Raum - West, das sich in den zurückliegenden 55 Jahren zwar auch dort ständig gewandelt, den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen mit angepasst hat, aber eben auf eine stabile Tradition zurückblicken kann, und daher auch wirtschaftlich mit ihren Menschen in der Lage sein wird, neue Herausforderungen zu bewältigen. Im Osten werden diese Einflussgrößen wesentlich schwieriger aufzufangen sein und die Abwanderung weiter begünstigen.

 

4.   Schließlich wird im Osten der Geburtenrückgang seit 1990 und der Wanderungsverlust, auch der künftige in den nächsten 10 bis 20 Jahren, gravierenden Einfluss auf den ländlichen Raum und die Agrarstruktur nehmen, wenn hier die Bevölkerung in vielen ländlichen Räumen des Ostens im Vergleich zu 1989/90 auf etwa 50 % zurückgegangen sein wird und auch in der nächsten Generation weiter zurückgehen dürfte. Die Altbausubstanz, auch der Bauernhöfe und vor allem die der LPG-Altlasten, die heute schon zu einem erheblichen Teil wirtschaftlich nicht mehr nutzbar ist, auch wirtschaftlich nicht mehr erhalten werden kann, aber auch der Aufwand für die Entsorgung von den Menschen nicht zu tragen ist, wird die Agrarstruktur und dem ländlichen Raum im Osten unvergleichbar stärker, geradezu dramatisch mitbestimmen.

 

Wenn heute schon rund 20 % des Wohnraumes leer steht, wird es in 15 bis 20 Jahren  mindest 50 % sein, da in Folge der Alterspyramide und der fehlenden jungen Menschen der biologische Lauf seine Spuren hinterlassen wird. Hinzu kommen rund 1 Mio. wirtschaftlich nicht mehr nutzbare abbruchreife landwirtschaftlichen Althofgebäude, die LPG-Hinterlassenschaften in Form von leerstehender Stallanlagen, die Gebäude-, Gewerbe- und Industrienbrachen diverse Umweltaltlasten. In 15 bis 20, spätestens in 30 Jahren wird auf jeden Bewohnen im Beitrittsgebiet eine solche bauliche technische Altlast entfallen - eine leerstehende Wohnung, oder ein abbruchreifes Wirtschaftsgebäude, oder ein Altgebäude oder Anlage einer Gewerbe-Industriebrache bzw. entsprechende Umweltaltlast. Was bis dahin, bis 2020, 2030, bereits mit dem Programm „Stadtumbau Ost" oder ähnlichen Fördermaßnahmen entsorgt werden kann, wird sich aus finanziellen Gründen in Grenzen halten, wenn nicht eine neue Entwicklungsstrategie von den betroffenen Menschen ergriffen, akzeptiert und unter enormen Aufwand und Opferbereitschaft umgesetzt wird. Schließlich ist diese bauliche Alterspyramide neben der biologischen der Spezies Mensch, der öffentlichen Überschuldung und der Versorgungsbezüge zusätzlich zu bewältigen und finanziell anders nicht zu verkraften, zumal dieser Altlastenentsorgungsaufwand keine produktive Investition ist, die sich amortisiert.

 

Der Rückgang der Einwohnerzahl um fast 20 % seit 1989, die strukturelle Veränderung der Bevölkerung in Folge Geburtenrückgang und Abwanderung auf der einen, der heute schon nicht mehr überschaubare Berg an Altlasten in Form von Altgebäuden und deren weiterwachsender Anteil auf der anderen Seite, sind bei weiter rückläufiger Einwohnerzahl ein weder von der heutigen, noch von der nächsten und übernächsten Generation zu bewältigendes Problem. Es sei denn, die Kommunen kaufen den Boden samt Altlast zum „Nulltarif" und letztere wird von den Einwohnern ehrenamtlich entsorgt. Für die freiwillige Feuerwehr, das THW, Sportvereine, Gewerkschaften, Rotes Kreuz und alle übrigen Einrichtungen und Organisatonen einschl. Rentner und Arbeitsloser im ländlichen Raum, ein riesiges und dankbares Betätigungsfeld - Voraussetzung wird sein, der Grundkonsens stimmt, RdL 11/2004.

 

5.   Die EU-Osterweiterung wird selbstverständlich als Teil der allgemeinen Globalisierung,

auch am ländlichen Raum nicht spurlos vorübergehen. Die Märkte und das Spektrum der Konkurrenten werden größer. Die Menschen in den EU-Beitrittsländern werden, so weit finanziell und persönlich möglich, ihre Chancen in der EU nutzen. Die Nahrungsmittelindustrie und der Handel werden durch nicht geringe Direktinvestitionen in den EU-Beitrittsländern eigene Lieferantenfirmen aufbauen, finanziell und vertraglich binden. Deutliche Tendenzen dieser Art sind längst erkennbar. Die Umstrukturierung der Landwirtschaft in den EU-Beitrittsländern und die Beseitigung von über 40 Jahren kommunistischer Hinterlassenschaften mit allen Folgen ist dort unvergleichbar schwieriger als auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, da hier ab 1990 enorme finanzielle, organisatorische und persönliche Hilfen zur Verfügung standen, die den heutigen EU-Beitrittsländern fehlen und die 5 neuen Bundesländer ohne EU-Bitrittsbedingungen erfüllen zu müssen, mit dem Einigungsvertrag 1990 EU-Mitglied wurden und damit auch schon seit 14 Jahren EU-Fördermittel erhalten. Der Aufholprozess auf der Ebene der Produktion, AK/100 ha, Ertrag/ha oder Milchleistung/Kuh, liegt in den EU-Beitrittsländern vor allem aus Kapitalmangel noch weit zurück. Das noch mögliche Leistungspotential ist beachtlich und wird bei weiterer Nutzung den globalisierten Markt in der EU und darüber hinaus und damit auch den ländlichen Raum schon beeinflussen.

 

6.   Mit den neuen Richtlinien des Baseler Ausschusses für Internationale Bankenaufsicht (Basel II) werden neue internationale Rahmenbedingen für die Kreditvergabe durch die Banken festgelegt. Angeschlossen sind diesem Ausschuss alle großen Industriestaaten. Die Bundesrepublik Deutschland ist dort vertreten durch die Deutsche Bundesbank sowie der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Damit wird die Kreditwürdigkeitsprüfung, die Bonität des einzelnen Kreditnehmers (Rating), international auf einen einheitlichen Standard gebracht. Die Banken werden dabei zur Einhaltung einheitlicher Mindesteigenkapitalquoten gezwungen, was der Stabilität des internationalen Bankensystems und der Volkswirtschaften dienen soll. Daher werden auch die Kreditgeber der landwirtschaftlichen Unternehmen künftig stärker auf die Rentabilität und Eigenkapitaldeckung des Kreditnehmers neben den Banksicherheiten achten müssen. Eine Überarbeitung der Kreditwürdigkeitsprüfung hat bei den Banken längst eingesetzt. Insbesondere die LPG-Altschuldenunternehmen, die seither kaum in der Lage waren ihren Altschuldenkapitaldienst zu bedienen, haben damit selbst den Beweis erbracht, dass sie nach Basel II - Rating - dem Grunde nach nicht kreditwürdig sind - RdL 5/2004. Sie haben, wie auch viele andere altschuldenfreie LPG-Unternehmen, ihren Betriebsentwicklungsplan, ihr Betriebskonzept i. d. R. nicht eingehalten und bieten keine Gewähr, dies künftig je zu schaffen. Und selbst wenn diesen Unternehmen mit der neuen Altschuldengesetzesregelung, die Darlehen weitgehend erlassen werden, ist die Gewährung neuer Darlehen und Fördermittel hier nicht zu vertreten. Wer 14 Jahre seit 1991 im Wesentlichen mit von der Substanz gelebt hat, kann auch durch Altschuldenerlass nicht kreditwürdig und förderfähig werden. Auf der Bilanzpassiva sind die Altschulden/RRV ohnehin längst als Eigenkapital ausgewiesen und zum Teil mit Verlusten verrechnet. Da bleibt nur noch die Insolvenz als nächster Schritt zum Schuldenabbau. Ohne Gewinn, ohne Kreditwürdigkeit, keine Ersatz- und Substanzerhaltungs- bzw. Erweiterungsinvestitionen und damit Substanzabbau, wie die Agrarberichte seit 1992 dokumentieren. Da hiervon etwa 60 bis 80 % der LPG-Unternehmen betroffen ist, kann daraus für die privaten unternehmerischen, ehrlich finanzierenden Bauern eine Chance erwachsen und insoweit positive Impulse geben.

 

7.   Der mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) vorgesehene Ausbau der „zweiten Säule" in Form gezielter Förderung der ländlichen Entwicklung wird die jetzt bereits anstehende und sich weiter zuspitzende Problemlage vieler Dörfer im Osten und damit dem ländlichen Raum im Beitrittsgebiet der 5 neuen Bundesländer wenig entschärfen können.
Die Folge wird sein, dass der materielle Wert der Bauernhofstellen, der Flächen mit Gebäude, weiter sinkt und das Eigentum weder materiell noch ideell den Stellenwert je wieder erlangen wird, wie er auch im Osten vor der Zwangskollektivierung und im Westen immer ganz selbstverständlich gegeben war. Mit der Frage des Eigentums ist aber immer auch die der sozialen Bindung in der Dorfgemeinschaft, der sozialen Sicherung der Familie und für viele Menschen ein Stück Heimat un­trennbar verbunden. Mit dem Aufbau der sozialistischen Land wirtschaft wurden diese tragenden Elemente des ländlichen Kulturraums vernichtet. Nach der Wiedervereinigung ist es zwar zunächst gelungen, diesen Schaden zum Teil zu beseitigen. Mit der Fortführung und staatliche Förderung der durch Unrecht und mit fremdem Bauerneigentum errichteten LPG-Betriebe, bei massiver Verweigerung der Vermögensauseinandersetzung seit 1990, wurde im ländlichen Raum bleibender Schaden stabilisiert. Die in Folge anerzogener DDR-Mentalität häufig festzustellen fehlende Wertschätzung des Eigentums und der Unfähigkeit vieler, ihr Eigentum ggf. gerichtlich zurückzufordern, hat diese Situation nachhaltig verdrängt.

8.   Durch die stattliche Förderung des Unrechts wird unser Rechtsstaat insgesamt geschädigt.  

Die rechtswidrige Bewilligung von Fördermitteln an die LPG-Unternehmen beläuft sich schätzungsweise auf 3 – 5 Mrd. DM/Jahr, denn ohne rechtswirksame Gesamtrechtsnachfolge und ohne ordnungsgemäße Vermögensauseinandersetzung (§ 44 LwAnpG) hätten die LPG-Unternehmen (auch nach der EU-Anpassungshilfeverordnung) ab 1991 keine Fördermittel erhalten dürfen. (Dokumentation I, S. 290, Anpassungshilfeverordnung, 1992 – LaAV 2/92, vom 20.07.1992, www.kuchs.de, Infozentrum-Ost, Kapitel 23).

Eine fehlende Rechtsgrundlage verhindert zudem die möglichen und oft rechtlich notwendige Rückforderung zu Unrecht bewilligter und ausgezahlter Fördermittel. Nach der Sächsischen Verfassung (Artikel 83 Abs. 1) wäre eine gesetzliche Regelung erforderlich gewesen, um Fördermittel zurückzufordern. Eine solche wurde unter Verletzung der Sorgfaltspflicht vom Gesetzgeber nicht geschaffen. Erst ein nun (2005) erwarteter Gesetzesentwurf soll diese Lücke ab 2008 (?) schließen (SächsVwNG), Sächsisches Gesetz zur Durchführung von Förderprogrammen der ländlichen Entwicklung), obgleich dieser Mangel schon 15 Jahre bekannt sein muss. Dabei darf man sicher davon ausgehen, dass die LPG-Unternehmen im Ernstfall auf diese Gesetzeslücke aufmerksam gemacht wurden, während die privaten Bauern im Zweifelsfalle bei geringsten Differenzen zu den Förderrichtlinien zurückzahlen mussten. (Hierzu auch Kapitel 20.2)

 

7.3 Ohne Grundkonsens geht es im ländlichen Raum nicht (Teil I)
7. Agrarberichte, Agrarstruktur
7.5 Global denken, lokal handeln