7.10 Ländlicher Raum auf roter Liste
7. Agrarberichte, Agrarstruktur
7.12 Wie gesund sind die Agrarfabriken
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7.11 Die gewachsenen Agrarstrukturen

                                            

Regelmäßig werden sie ins Feld geführt. Die „gewachsenen Strukturen“, wenn es in Medien und Diskussionen um die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP), die Subventionen der Agrargroßbetriebe im Beitrittsgebiet, geht. Gewachsen bedeutet hier, sich über einen längeren zurückliegenden Zeitraum entwickelt haben, eben gewachsen sind. Ein historischer Rückblick auf diese Entwicklung kann daher sehr nützlich, ja geradezu notwendig, sein, um diese gewachsenen Strukturen sachgerecht zu beurteilen, agrarpolitisch und darüber hinaus auch wirtschafts- und gesellschaftspolitisch einzuordnen.

1.      Der sozialistisch-kommunistische Osten:


Bis April 1945 waren wir eins – Ost und West. Gesamtdeutschland hat den Zweiten Weltkrieg gemeinsam verloren. Dabei ist festzustellen, dass die Agrarstrukturen im Osten, Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Mecklenburg, Brandenburg, schon immer um einiges größer waren als im Westen, vor allem in den dortigen Realteilungsgebieten.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Umsetzung des Potsdamer Abkommens entstand die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Zwei Flüsse, die Oder und die Neiße, wurden zur deutschen Ostgrenze, zu Polen. In der SBZ kam es zur Enteignung aller landwirtschaftlichen Betriebe über 100 ha, aber auch tausender Familienbetriebe, vor allem, wenn sein Besitzer mit der NSDAP „Ortsbauernführer“ oder anderweitig mit dem Dritten Reich aktiv verbunden war oder sich nun offen gegen den „Stalinismus“ gewandt hat, der mindestens bis 1953 den Menschen jegliche Rechte entzog, was tiefe Spuren in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zur Folge hatte. Demontagen, Enteignung von Industriebetrieben und millionenfache menschliche Schicksale verschärften die Verhältnisse.
Wer sich gegen die sowjetische Militärherrschaft, der Diktatur der KPdSU, zur Wehr zu setzen versuchte, hatte Schlimmstes zu befürchten. Bauern, die ihr Pflichtablieferungssoll nicht erfüllen konnten, hatten mit entsprechenden Konsequenzen zu rechnen. Politische Gefängnisse dienten zusätzlich zur Einschüchterung der Menschen. Nach der Gründung der DDR in 1949 und nach Stalins Tod in 1953 änderten sich einige Formen der Diktatur, die Entrechtung blieb.
Mehr als drei Mio. Menschen verließen von 1945 bis zum Bau der Berliner Mauer in 1961 den Osten Deutschlands, die SBZ, die DDR, in Richtung Freien Westen. Mehr als 33 000 politische Gefangene, darunter 13.000 Frauen, hat die Bundesrepublik bis 1990 freigekauft, der DDR gegen harte Devisen zum Durchschnittspreis von 80.000 DM abgekauft.

Ausbeutung ohne Ende. Solange es Kohle und Uranerz gab, gingen diese in die UdSSR, ohne dass es dort je wirtschaftlich auch nur annähernd aufwärts gegangen wäre wie im „kapitalistischen“ Westen, der sozialen Marktwirtschaft.

Eine Einrichtung der Ostberliner Regierung, der SED, ein zwangsweiser Zusammenschluss von KPD und SPD, des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi), hat hierzu einen entscheidenden Beitrag geleistet. SED – PDS – Die Linke – die mentalen Spuren werden immer wieder deutlich.

Wie viele tausend Menschen an der 155 km langen Berliner Mauer, der 1.250 km langen innerdeutschen Grenze, von der Ostsee bis zur Nähe Hof, der 12.300 km langen Ost-West-Grenze, von der Barentssee bis an das Schwarze Meer, ihr Leben verloren haben, wie viele Menschen an dieser Grenze körperliche Verletzungen erlitten, aber überlebt haben, und damit ihr Leben lang damit fertig werden müssen, bleibt ungeklärt. Todesstreifen, Selbstschussanlagen, Minenstreifen, Enteignungen, Zwangsumsiedlung, Entrechtungen, in ganz Osteuropa bis 1990, haben tiefe Spuren hinterlassen.

Die gewachsenen Strukturen sind unverkennbar.

2.      Der freie Westen


Der Blick in die Freiheit beschränkte sich bei vielen Menschen in der DDR vorwiegend auf die Bundesrepublik Deutschland. Tatsächlich war hier nach ihrer Gründung in 1949 Freiheit angesagt. Art. 1 – 19 GG sichert seit 1949 die Grundrechte. Menschenrechte, Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freizügigkeit, Schutz des Eigentums, Gewaltenteilung, offener Rechtsweg, um hier nur einige zu nennen. Tatsächlich gelten diese Rechte und Pflichten nicht nur in der Bundesrepublik, sondern, wenn auch zum Teil in abgewandelter Form, in allen freien westeuropäischen Ländern und in Nordamerika. Dabei ist festzustellen, dass es sich beim Grundgesetz um keine starre, unveränderliche Fixierung handelt. Der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend wurde unser Grundgesetz inzwischen seit 1949 mehr als 55 Mal in seinen 146 Artikeln geändert, den sich wandelnden Notwendigkeiten und Zielen angepasst.

Von Interesse ist hier auch, dass ab 1957 mit dem Vertrag von Rom, der sechs Gründerstaaten - Frankreich, Italien, Deutschland, den drei Benelux-Ländern -, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) existent ist und in deren Folge Brüssel und Strassburg für Europa zunehmend an Bedeutung gewonnen haben.

Von Bedeutung für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst der Fleiß, die Opferbereitschaft der Menschen, die aus dem Osten Vertriebenen, Millionen Flüchtlinge und in den Städten Ausgebombte schufen sich wieder ein Dach über den Kopf. Die wirtschaftlich Tätigen, Arbeiter, Angestellte, Unternehmer, sie alle haben kaum Vorstellbares geleistet. Der Marshallplan brachte von 1949 – 1953 rund 1,8 Mrd. US-Dollar für die Bundesrepublik und jeweils ebensolche Förderung den übrigen Ländern Westeuropas. Diese Finanzhilfen wurden nahezu ausschließlich als zinsgünstige Darlehen (ERP) für den Wiederaufbau, die Wirtschaft, vergeben. Noch heute stehen solche Mittel bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zur Verfügung. Die DDR, der 1949 ebenso solche Marshallplan-Mittel angeboten worden waren, hat diese aus stalinistischen Gründen abgelehnt. Man wollte sich vom kapitalistischen Westen nicht beeinflussen, reinreden, „unterwandern“ lassen.

Dabei ist festzustellen, dass die erhaltenen 1,8 Mrd. Marshallplan-Mittel, umgerechnet in DM/EUR und unter Beachtung der Preis-Wertentwicklung, etwa dem entsprechen, was das Beitrittsgebiet nun schon seit mehr als 20 Jahre jährlich von der Bundesrepublik und der EU erhält.

3.      Die gewachsenen Agrarstrukturen

a.      In den drei Westzonen und ab 1949 in der Bundesrepublik gab es praktisch keine bzw. nach 1945 nur ganz vereinzelte Enteignungen. Unternehmerinitiativen waren gefragt. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung und dem technischen Fortschritt begann ab etwa 1953 ein beachtlicher Strukturwandel. Viele kleine bäuerliche Familienbetriebe hatten keinen Nachfolger mehr, da in der Industrie bei 48 Stunden-Woche besser verdient wurde. Der Traktor verdrängte zunehmend die Pferde als Zugtier. Inzwischen gibt es kaum noch ein Dorf ohne einen Betrieb, der über
100 ha bewirtschaftet. Familienbetriebe mit 200 ha LN und mehr waren schon 1990 keine Seltenheit. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung waren und sind deutlich sichtbar.

b.      In der DDR folgte 1952 mit dem Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG-G) ein gravierender Einschnitt in das selbstständige, unternehmerische Denken und Handeln. Die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei sollten die Errungenschaften der wirtschaftlich, technischen Revolution und das genossenschaftliche Eigentum effektiv nutzen (§§ 1 und 4 LPG-G). Nach den Grundlagen des leninistischen Genossenschaftsplans sollte der sozialistische Staat die LPG prägen (§ 6 LPG-G). Das alleinige Nutzungsrecht des Bodens und der Wirtschaftsgebäude hatte die LPG
(§§ 18 und 19 LPG-G). Der Bauer durfte noch 0,5 ha landwirtschaftliche Fläche selbst nutzen und Vieh für den Eigenbedarf halten.

Der Weigerung der meisten Bauern, einer LPG beizutreten, bereitete die Zwangskollektivierung von 1960 ein Ende.

1974 kam es zu einer Trennung von Pflanzenbau und Tierhaltung. Nun gab es LPG (P) – Pflanzenproduktion mit bis zu über 5 000 ha, zum Teil über 10 – 12 Dörfer. Daneben LPG (T) – Tierproduktion mit mehr als 2 000 GVE (Großvieheinheiten). Insgesamt gab es bis 1990 in der DDR nahezu 4.000 solche LPGs (T) und (P). Die Hektar-Erträge, Doppelzentner ha und Milchleistung, Kilogramm pro Kuh und Jahr, lagen 1988/89 bei etwa 40 – 60 % des Westniveaus. Der Arbeitskräftebesatz je 100 ha oder GVE lag deutlich über den der westeuropäischen Familienbetriebe.

Neben dem politischen war der wirtschaftliche und gesellschaftliche Niedergang der DDR und des gesamten sowjetischen Ostblocks von Fachleuten, internen Kennern der Lage, seit Anfang der 80er Jahre erkennbar. Sagen konnte es bis 1990 keiner, denn die politischen Gefängnisse, wovon es mehr als 12 gab, sorgten für Angst. Zumal auch Mord und Totschlag dort nicht ganz selten waren.

Die von Ostberlin aus zentralistisch-diktatorisch gesteuerte DDR hat nicht nur auf der Ebene der Agrarstruktur gewachsene Spuren hinterlassen! Der größte Teil des in der DDR enteigneten, auch gewerblich-industriellen, Vermögens wurde ab 1990 nicht oder Jahre verzögert und in erbarmungslosem Zustand seinen ehemaligen Eigentümern zurückgegeben. Die DDR war 1989 um 150 % überschuldet. Gebäude und Einrichtungen der volkseigenen Betriebe (VEB) waren auf 40 % abgewirtschaftet. [1] [2] [3]

Der gesamte Ostblock war wirtschaftlich am Ende, so auch Gorbatschow, der 1987 eine neue Revolution forderte.[4]

Die Mangelwirtschaft hatte nicht nur die Konsumgüter im Griff, sondern vor allem auch die Betriebs- und Produktionsmittel sowie fehlende Ersatzteilversorung. Die Produktion lag am Boden. Von diesen Mängeln blieben auch die gewachsenen Strukturen der LPG-Landwirtschaft nicht verschont.

c.      Und dann, 1989, brach der Ostblock wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich, und damit auch die DDR, zusammen. Millionen Menschen, inzwischen über 3 Mio., liefen davon. Die fünf Bundesländer wurden wieder gegründet und traten der Bundesrepublik (Grundgesetz alter Fassung) bei. Die gewachsenen DDR-Strukturen, was immer man auch darunter verstehen mag, hatten ausgedient. Das LPG-G wurde per 31.12.1991 außer Kraft gesetzt. Nach dem Landwirtschafts-anpassungsgesetz (LwAnpG), noch von der letzten DDR-Regierung erlassen, sollte das Eigentumsrecht wieder seine Bedeutung zurückerhalten.

Die Treuhandanstalt, ebenso von der letzten DDR-Regierung gegründet und bis heute die BVVG, sollte im außerlandwirtschaftlichen, im Wirtschafts- und Eigentumssektor selbiges umsetzen.

Die Ergebnisse sind auch mehr als 20 Jahre nach dem Beitritt der fünf wieder gegründeten Bundesländer (einschließlich Ost-Berlin) geradezu fatal. Die Eigentumsverhältnisse, die wirtschaftliche Rechtsgrundlage unseres Staates, sind nicht bzw. nicht korrekt gelöst. Treuhandanstalt und BVVG, eine Aktiengesellschaft zu 100 % im Eigentum des Bundes, haben das in der DDR gewachsene Eigentumsunrecht nicht beseitigt, sondern bis heute zum Großteil unverantwortlich fortgesetzt. Zum Teil nehmen die Erben diese einst enteigneten bebauten Grundstücke nicht mehr zurück, da nicht absehbare Altlasten offenkundig zu befürchten sind, der abgewirtschaftete Zustand bis zur Wertlosigkeit geführt hat.

Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Einkommensverhältnisse liegen noch immer rund 30 % unter Westniveau. Das Steueraufkommen deckt in den Ostländern kaum mehr als 50 % der Länderhaushaltsaufwendungen.

Neben dem Bund haben auch die Städte und Gemeinden enteignetes Vermögen nicht bzw. oft über Jahre verzögert und zerstört, an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben. Ohne geordnete, ehrliche, dem Grundgesetz entsprechende, Eigentumsverhältnisse fehlen auch die Unternehmer, die Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum.

Die rechtlichen Vorschriften des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes, das ab 1990 eine Rechtsgrundlage zur Vermögenszuordnung der LPGs und ihrer Nachfolger an die LPG-Bauern ist, wurden flächendeckend grob verletzt.
Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen wurden nur etwa 25 % des LPG-Vermögens/Eigenkapitals zugeordnet. [5]

Meine Ergebnisse bei den Landwirtschaftsgerichten bestätigen diese Feststellungen. 1952, Zeitpunkt der Verabschiedung des LPG-G, gab es rund 700 000 bäuerliche Betriebe in der DDR. Etwa 700, also Eintausendstel, habe ich seit 1990 bis 2012 bei den Gerichten (Amtsgerichten, Oberlandesgerichten) vertreten und beraten, vor allem 1990/91/92 auch außergerichtliche Vereinbarungen und Nachzahlungen für die Bauern erreicht. Bei den Gerichten wurden meist, um Gutachten-Risiken-Kosten zu vermeiden, Vergleiche abgeschlossen. Dennoch mussten die gewachsenen Agrarstrukturen in den von mir vertretenen Verfahren rund 10 Mio. EUR nachzahlen. Und dies bei etwa Eintausendstel aller Betriebe. Hochgerechnet ergibt das rund 10 Mrd. EUR, die den LPG-Bauern und ihren Erben von den gewachsenen Agrar-Strukturen vorenthalten wurden.

Viele Menschen sind vom Rechtsstaat enttäuscht und haben resigniert.

Dabei war nach der auch von der EU 1991 genehmigten Anpassungshilfeverordnung und den folgenden Förderrichtlinien die rechtswirksame Gesamtrechtsnachfolge und die ordnungsgemäße Vermögensauseinandersetzung nach LwAnpG Fördervoraussetzung. Diese wurden sträflich missachtet und jährlich viele Millionen Subventionen von den Beitrittsländern entgegen der Förderbedingungen ausgezahlt.

Dieses Subventionsvergehen auf höchster Ebene setzt sich bis heute fort und würde bei korrekter Anwendung auch die EU-Direktzahlungen betreffen. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) hat auch auf dieser Ebene Nachholbedarf, oder sollen die Agrarkapitalgesellschaften, die gewachsenen Agrarstrukturen, ihre Unrechtspraxis weiter fortsetzen?

Wenn heute im Rahmen der Diskussion die GAP ab 2014 auch von Agrarministern und Bauernverbandsvertretern die gewachsenen Strukturen ins Feld führen und sich dafür engagieren, das gewachsene Unrecht unverändert weiter zu subventionieren, negieren sie die Realitäten einer bedauerlichen, ja beängstigenden, Entwicklung, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Schließlich wirtschaften die Agrarkapitalgesellschaften seit 1991 mit Eigenkapital der LPG-Bauern, ohne ihnen dieses nach
§ 44 (1) LwAnpG zuzuordnen oder auszuzahlen. Ferner erhalten diese „gewachsenen Strukturen“ jährlich GAP-Direktzahlungen in etwa der Höhe ihrer Personalkosten, wie die Bilanzen, die Gewinn- und Verlustrechnungen ausweisen, und dies neben umfangreichen anderen Fördermitteln der Länder, des Bundes und der EU. Pro Arbeitskraft erhalten die bäuerlichen Familienbetriebe etwa 5 – 15 Tausend EUR/Jahr Direktzahlungen, die Agrarkapitalgesellschaften nicht selten 30 Tausend bis 100 Tausend EUR/Jahr. Wie lange kann die EU und die Bundesrepublik dieses gewachsene Unrecht noch finanzieren? Müssten nicht unsere Grundrechte, das Grundgesetz, Gerechtigkeit und Vertrauen europaweit bedingungslos im Vordergrund stehen und geachtet/beachtet werden?! Was sind das für gewachsene Strukturen.


[1] C. Paffrath, Macht und Eigentum – Enteignungen 1945/1949

[2] S. Wenzel, Was war die DDR wert?

[3] Schürer-Gutachten, Deutschlandarchiv 1991

[4] M. Gorbatschow, Perestroika, Die zweite russische Revolution

[5] W. Bayer, DFG-Forschungsprojekt

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